Predigt am Ostersonntag 2022 in St. Bonifatius Dortmund-Mitte
Der Anfang der Herrlichkeit hat schon begonnen.
Liebe Schwestern und liebe Brüder!
Haben Sie schon einmal eine Sprengung in einem Steinbruch erlebt? Oder waren Sie dabei, als eine Brücke oder ein großes Gebäude gesprengt wurde? Die Zündschnur wird angezündet, die Sirenen warnen, Arbeiter und Zuschauer gehen spätestens jetzt auf sicheren Abstand, und alle warten auf die Detonation. Kann man in dieser Wartezeit sagen, dass das Anzünden der Zündschnur nur ein Ereignis der Vergangenheit ist? Ist das Anstecken der Lunte nicht vielmehr der Anfang eines Ereignisses, eines Ereignisses, das in Entwicklung begriffen ist und das unwiderstehlich auf seinen Höhepunkt, die Explosion, zusteuert? Das Bild von der brennenden Zündschnur, das ich in einer Ostermeditation von Karl Rahner gefunden habe, macht klar, dass es Ereignisse gibt, die nicht nur Vergangenheit sind (Anzünden der Lunte), sondern die in ihrer Gegenwart (Brennen der Lunte) schon die Zukunft in sich selbst tragen (die Explosion). Anders gesagt: Der Anfang des Ereignisses in unserem Bild von der glimmenden Zündschnur setzt eine Bewegung in der Vergangenheit in Gang, die in die Zukunft führt und immer gegenwärtig bleibt. Dieser kurze Gedankengang will uns helfen, besser zu verstehen, was das Osterfest im Kern besagt.
Ostern verkündet die Auferstehung Jesu Christi vor 2000 Jahren und damit einen Anfang, den wir in der Gegenwart feiern und der schon über die Zukunft entschieden hat. Auferstehung will sagen: Im auferstandenen Christus hat der Anfang einer Herrlichkeit begonnen, die Gott für seine Schöpfung vorgesehen hat. Der Bibel und der Theologie ist für dieses Ziel des göttlichen Planes kein besseres Wort eingefallen als doxa (griechisch), gloria (lateinisch), Herrlichkeit (deutsch). Was uns die Osterevangelien erzählen (der fortgewälzte Stein, das leere Grab, die Leinenbinden), lässt uns auf das Ostern von damals schauen, auf das Ostern vor 2000 Jahren in Jerusalem, auf das Osterereignis, das so nie wiederkehrt. Wenn wir Ostern heute feiern, richtet sich unser Blick auf den, in dessen Tod und Auferstehung damals das für alle Zukunft Entscheidende geschehen ist: der Tod und die Sünde haben ihre Macht verloren. Die Todesmächte dieser Welt sind endgültig besiegt, und in der Gemeinschaft mit dem auferstandenen Christus hat der Anfang der Herrlichkeit schon begonnen, verborgen zwar, aber wirklich und wirkmächtig. Das Ostern der Zukunft wird sichtbar machen, was damals seinen Anfang nahm und was wir heute im Glauben feiern. Wie eine Explosion wird das sein, unvorstellbar, wenn der österliche Christus uns und die Welt heimholt in die Herrlichkeit Gottes, der am Ende der Welt- und Menschheitsgeschichte seine Schöpfung verklären wird.
Liebe Schwestern und Brüder,
Die Frage stellt sich nun, wie solche letztlich optimistischen Osterüberlegungen zur Wirklichkeit passen, in der wir zurzeit leben. Denn Kirche und Welt und bei vielen Menschen auch das persönliche Leben werden als kompliziert und verwirrend erlebt. Kriege und Gewalt in zahlreichen Ländern der Erde, besonders jetzt in der Ukraine, Kriegsverbrecher und Terroristen, Bilder und Berichte von Menschen auf der Flucht, all das erfüllt uns mit Schrecken und Entsetzen und lässt uns an der Aussage zweifeln, der Anfang österlicher Herrlichkeit habe schon begonnen. Besonders das Leid unschuldiger Kinder lässt uns fragen, welchen Sinn Schmerzen und Qualen haben, wenn das Entscheidende aller Geschichte sich in Tod und Auferstehung Jesu schon ereignet hat. Warum wird der vor 2000 Jahren von Christus errungene Sieg über Tod und Sünde nicht offenbar, und warum verlieren die Todesmächte (Pandemie und Klimakrise seien nur noch genannt) nicht endgültig und für alle Welt sichtbar ihre Kraft? Solche Anfragen an den Osterglauben lassen sich fortsetzen. Sie verhindern, dass der Karfreitag, der den Durchgang Jesu durch Leiden und Tod begeht, voreilig beiseitegeschoben wird und Ostern zu schnell zur Vertröstung wird.
Ein Blick auf die kirchliche Situation verstört ebenfalls viele Menschen. Geistlicher und sexueller Missbrauch, die Kirchenaustrittszahlen, Verzögerung von notwendigen Reformen, Verdunstung des Glaubens und anderes mehr verdunkeln, was in der Kirche unseres Landes und weltweit gelingt. Vertuschung und Tatenlosigkeit von Verantwortlichen empören. Und Stimmen werden lauter, die sagen, dass Kirche sich viel zu sehr um sich selbst kümmere. Wird die Osterbotschaft wirklich gelebt und verkündigt? Schauen nicht zu viele zurück in die vermeintlich bessere Vergangenheit? Müsste die kirchliche Gegenwart nicht viel stärker von der für die Zukunft verheißenen Vollendung und Verklärung und der Freude darüber gestaltet werden? Wo entdecken wir zum Beispiel in unseren Gottesdiensten die weltliche und kirchliche Situation? Wo bleiben Klage und Anklage? Die eine Fürbitte für die Menschen in der Ukraine oder die vom Missbrauch Betroffenen reicht da nicht. Es müssten neue Wege gesucht werden, um in neuer Sprache und Musik, in Stille und Symbolen Leid und Tod und österlichen Glauben zum Leuchten zu bringen.
Liebe Gemeinde!
Die Zündschnur brennt. Wir feiern Ostern 2022 so, dass die Auferstehung Jesu Christi von den Toten aus dem Damals ins Heute gegenwärtig gesetzt wird, im Warten darauf, dass für alle Welt sichtbar wird, was Gott im Tod und in der Auferweckung Jesu Christi in Bewegung gesetzt hat. In jeder Messfeier, insbesondere aber in der Liturgie der Osternacht und der Osterzeit, wird dieses Ineinander von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft deutlich, wenn Diakon bzw. Priester nach der Wandlung der eucharistischen Gaben rufen: „Mysterium fidei – Geheimnis des Glaubens“ und die Gemeinde antwortet: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit“. Und wenn wir in der heiligen Kommunion das österliche Brot des Lebens empfangen und der gekreuzigte und auferstandene Christus uns empfängt, dann strahlt in unsere manchmal wunderbare, oft aber auch beschwerliche Lebenswirklichkeit die zukünftige Herrlichkeit hinein. Unsere Lebensfreude (Ach, ist das schön!), unser Seufzen und Stöhnen über das, was wir im Leben an Leidvollem und Schwerem ertragen (Ach, ich kann nicht mehr!) werden gewandelt. In der österlichen Eucharistie werden wir in die Bewegung hineingenommen, die beim ersten Ostern in Gang gesetzt wurde, eine Dynamik, die seit Maria und den Frauen am Grab und den Aposteln anhält und in der langen Kette der Zeugen auch uns mitreißen will. So verstanden wird an Ostern die Gewissheit unseres Glaubens gestärkt, die Unbeirrbarkeit unserer Hoffnung gefestigt und die Sehnsucht unserer Liebe im Einsatz für andere neu geweckt. Ostern will uns befähigen, dass wir die Herausforderungen des Glaubens und des Lebens bewältigen. Und ganz am Ende, wenn sich – um das Bild vom Anfang der Predigt aufzugreifen – der Staub der Explosion gelegt hat, werden wir – hoffentlich! – den Sinn unseres Lebens- und Glaubensweges, den Sinn der Welt- und Menschheitsgeschichte erkennen. Dann wird unser „Ach“ zu einem Ausruf der absoluten Überraschung werden (Ach, so war das also alles gemeint!), und wir werden einstimmen in den himmlischen Lobpreis: Amen. Alleluja.
Claus-Dieter Klais, Diakon